German Council Magazin 04.2018 - page 6

GCM 4/2018
GERMAN COUNCIL . WANDEL
»Mehr Ärzte rauchen Camel als jede andere Zi-
garette der Welt« – die Anzeige des Tabakkon-
zerns RJ Reynolds im »New England Journal of
Medicine« und dem »Journal of the American
Medical Association« zählt in den 1950er Jah-
ren zur Standardwerbung der Zigarettenindust-
rie. Medizinische Fachzeitschriften jener Zeit
sind gefüllt mit Reklamen für Chesterfield, Marl-
boro und etlichen anderen Marken. Ärzte grei-
fen noch häufiger zum Glimmstengel als der
Rest der Bevölkerung. Denn Rauchen gilt nicht
nur als vornehm, sondern auch als gesund.
Magenbeschwerden, Übergewicht, Rachenent-
zündungen und Stirnhöhlenkatarrhe – seit
dem 17. Jahrhundert attestieren Mediziner
den Ausdünstungen brennenden Tabaks eine
Vielzahl an Heilwirkungen. Bis in die jüngere
Zeit: 1952 propagiert die ADAC Motorwelt in
ihrer Märzausgabe den Griff zur Zigarette. Un-
ter der Überschrift »Tabak und Kraftfahrer«
mus, die Herrschaft vorgeblich von Gott ein-
gesetzter Monarchen, über die Menschen,
enden. Mit der Amerikanischen Revolution
sagen sich 1776 erstmals Kolonisten von ih-
rem Mutterland los und legen den Grund-
stein für die bislang mächtigste Demokratie
der Geschichte.
Handel mit Feuerstein
Triebkraft allen Wandels ist, quer durch alle
Zeiten, der Handel. Bereits im Neolithikum, der
um 11.500 vor Christi beginnenden Jungstein-
zeit, transportieren Menschen begehrte Güter
wie Feuerstein über hunderte Kilometer hin-
weg von Fundstellen zu Siedlungen. Die längs-
te von Archäologen entdeckte »Feuersteinstra-
ße« führt bereits vor Jahrtausenden über 250
Kilometer von Böhmen nach Bayern. Die im-
mensen Distanzen überraschen nicht: In gera-
de einmal knapp 100 Bergwerken wird in Euro-
pa der Kiesel gewonnen, mit dem sich Funken
schlagen lassen, um Zunder zu entzünden.
Obendrein lässt sich das aus Siliziumdioxid
und Mineralen bestehende Gestein so scharf-
kantig schlagen, dass sich daraus Messer, Pfeil-
und Speerspitzen formen lassen.
ALS RAUCHEN NOCH GESUND WAR
Regelmäßig werden vermeintlich gesicherte Weltbilder durch neue Erkenntnisse zertrümmert.
Die einzige Konstante in der Geschichte der Menschheit ist der Wandel. Vorangetrieben wird er
seit Jahrtausenden durch den Handel
schildert die Mitgliederzeitschrift des Automo-
bilclubs das Resultat einer neuen Studie briti-
scher Mediziner: Sie vermelden, dass Nikotin-
genuss die Konzentration der Autofahrer erhö-
he und so den Straßenverkehr sicherer mache.
Das Fazit der Ärzte: Rauchen am Steuer sei
»medizinisch empfehlenswert«.
Heute steht Nikotin für Herzinfarkt, Krebs und
Schlaganfall. Beginnend in den 1960er Jahren
entdecken Wissenschaftler, dass die Inhalation
der Gase brennender Blätter des Nachtschat-
tengewächses nicht so bekömmlich ist wie
über Jahrhunderte vermutet.
Nicht nur in der Medizin werden vermeintlich
gesicherte Erkenntnisse immer wieder über
Bord geworfen. Die Geschichte der Mensch-
heit ist ein steter Fluss, gespeist aus neuem
Wissen, das althergebrachte Annahmen da-
vonfegt. Die Renaissance, die Wiederentde-
ckung antiken Wissens in den arabischen Bib-
liotheken des vom christlichen spanischen
Königreich rückeroberten Andalusiens, reißt
Europa aus der Düsternis des Mittelalters.
Das Zeitalter der Aufklärung, die Entdeckung
des rationalen Denkens, lässt den Absolutis-
Junger Mann mit Pfeife (Michel Gobin, 17. Jh.)
© Shawshots / Alamy Stock Photo
1946 startete die RJ Reynolds Tobacco Company eine große
neue Werbekampagne für Camel Zigaretten. Die damals ernst
gemeinte Botschaft: Rauchen ist gesund!
© Zenodot Verlagsgesellschaft mbH / commons.wikimedia.org
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