German Council Magazin 04.2018 - page 10

GCM 4/2018
GERMAN COUNCIL . WANDEL
VERFRÜHTES REQUIEM
Seit mehr als 200 Jahren wird dem Einzelhandel regelmäßig das baldige Ende prophezeit.
Bislang lagen die Prognostiker jedoch immer falsch. Auch der E-Commerce, zurzeit als
Totengräber aller stationären Geschäfte gehandelt, ist weit davon entfernt, Backstein-Läden
und Shopping Center zu ersetzen
Für sein Lieblingsgeschäft ist der Entertainer
zum Äußersten bereit: »Wenn Tante Emma
nicht mehr ist und ein Discount den Laden
frisst, setz’ ich mich auf den Bürgersteig und
trete in den Hungerstreik«, singt Udo Jürgens
1976 in seiner Ode an den »Tante-Emma-La-
den an der Ecke vis-à-vis«. Es soll ein Requiem
sein auf die stetig schrumpfende Zahl kleiner,
Inhaber geführter Einkaufsgeschäfte und zu-
gleich eine Kritik an der rapide wachsenden
Präsenz der Supermärkte.
Heute, 42 Jahre später, zeigt sich, dass der To-
tengesang definitiv zu früh angestimmt wur-
de. Zum einen haben mit Bäckereien, Feinkost-
geschäften, Schlachtereien und Kiosken, die
bis tief in die Nacht mit ihrem Sortiment von
Butter über Käse und Marmelade bis hin zu
Waschmitteln den essenziellen Bedarf decken,
kleine Läden mit persönlichem Kundenkontakt
ohnehin den Wandel der Zeit überstanden.
Zum anderen feiert Tante Emma gerade ein Re-
vival: In zahlreichen kleinen Orten auf dem
Land, wo Anwohnerinitiativen und Kommu-
nen kleine Dorfläden wieder auferstehen las-
sen, aber auch in Großstädten. Beispielsweise
an der Schlüterstraße im östlichen Düsseldor-
fer Stadtteil Grafenberg.
Dort betreibt die zum Metro-Konzern gehö-
rende Einzelhandelskette Real nahe ihrer Zent-
rale das Einkaufsgeschäft »Emmas Enkel«.
Nostalgisch inszeniert im Stil der Ladenlokale
der 1970er Jahre finden Kunden dort persönli-
che Nähe zu den Mitarbeitern: Fleisch, Käse
und Wurst werden an Bedientheken gereicht,
wo Stammkunden und Personal auch mal ein
kurzes Schwätzchen halten. Das Konzept
kommt an. »Emmas Enkel ist eines der profita-
belsten Geschäfte, die wir haben«, sagt Mar-
kus Jablonski, Leiter Unternehmenskommuni-
kation bei Real. Neben den Anrainern im
Wohnquartier Grafental wüssten auch die Be-
schäftigten der umliegenden Unternehmens-
zentralen – vom Gasproduzenten Air Liquide
Hertie ist bereits 1993 von Karstadt übernom-
men worden. Inzwischen sorgen auch Online-
Händler wie Amazon und Zalando für heftige
Konkurrenz. Jetzt wollen die beiden verbliebe-
nen großen Ketten es gemeinsam versuchen:
Karstadt, 2014 von der Signa Holding des Inns-
brucker Unternehmers René Benko übernom-
men, und Kaufhof, seit 2015 im Besitz des kana-
dischen Handelsunternehmens Hudson’s Bay
Company, haben gerade die Fusionsverträge un-
terschrieben. Benko hält 50,01 Prozent der An-
teile, die Kanadier 40,99 Prozent. Gemeinsam
haben beide Unternehmen HBC zufolge 2017 ei-
nen Umsatz von 5,4 Milliarden Euro erwirtschaf-
tet. Der Online-Marktführer in Deutschland,
Amazon, kam hingegen nach Zahlen des Kölner
EHI-Instituts vergangenes Jahr auf einen Retail-
umsatz von 8,8 Milliarden Euro.
Es sind solche Zahlenvergleiche, die Akteure
aus dem E-Commerce-Business und manche
Unternehmensberater dazu verleiten, das baldi-
ge Ende des stationären Handels zu verkünden.
»Der Online-Handel bleibt Wachstumstreiber
im ersten Halbjahr 2018 und legt insgesamt mit
einem Plus um 11,1 Prozent im Vergleich zum
Vorjahreszeitraum zu«, frohlockt Christoph
Wenk-Fischer, Hauptgeschäftsführer des Bun-
desverbands E-Commerce und Versandhandel,
bis zur Metro – den Service im Nostalgieladen
zu schätzen.
»Handel ist Wandel« – mit diesem geflügelten
Aphorismus wird seit mehr als 200 Jahren re-
gelmäßig Teilen des Einzelhandels der Unter-
gang prophezeit. Die kleinen Geschäfte gera-
ten dabei nicht erst in den 1970er Jahren mit
dem Boom der Supermärkte auf die Liste der
vermeintlichen Todeskandidaten. Bereits als
1796 auf der Londoner Pall Mall mit Harding
Howell’s Grand Fashionable Magazine das ers-
te Vollkaufhaus Europas eröffnet, sorgen sich
Politiker in der britischen Hauptstadt um die
Zukunft der bestehenden Textil-, Juwelier- und
Geschirrgeschäfte. Denn Gründer Howell nutzt
sein ererbtes Kapital, um bei Manufakturbe-
trieben große Warenmengen mit Rabatt einzu-
kaufen – und reicht den Preisvorteil an seine
Kunden weiter, um sie an sein vierstöckiges
Kaufhaus zu binden.
E-Commerce zur Grundversorgung
der Bevlkerung
In Deutschland wird den kleinen Ladengeschäf-
ten erstmals das Ende geweissagt, als kurz hin-
tereinander 1879 erst Leonhard Tietz in Stral-
sund, 1881 dann Rudolph Karstadt in Wismar
und ein Jahr später Tietz’ Bruder Oscar in Gera
ihre Kaufhäuser eröffnen. Es sind die Geburts-
stunden der späteren Kaufhausgiganten Hertie,
Karstadt und Kaufhof. Anders als in den Krämer-
läden der damaligen Zeit wird bei ihnen nicht
mehr gefeilscht. Vielmehr locken Karstadt und
die Tietz-Brüder mit niedrigen Festpreisen. Kun-
den müssen sich nicht länger sorgen, dass sie
für ein Produkt eventuell mehr Geld als andere
zahlen, nur weil sie nicht so gut wie diese ver-
handeln können.
Heutzutage hingegen wird das Ende der Kauf-
häuser ausgerufen, da deren Umsätze seit Jahr-
zehnten schrumpfen. Für Druck sorgen seit lan-
gem Discounter mit noch niedrigeren Preisen:
Einkauf imMini-Markt
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